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Das WEB-Zivilverfahren
Der Prototyp eines digitalen Gerichtsaktes - Aktenbildung und Verhandlung
letzte Änderung 3.12.2006
Im Juli 1989 platzte in Salzburg der Wohnungseigentumsbau - Bautreuhand - Immag - Skandal (kurz WEB-Skandal). In einem undurchsichtigen Firmengeflecht waren Tausende Anleger, vor allem im Zusammenhang mit sogenannten "Hausanteilscheinen" geschädigt worden. Die Geschehnisse um das Firmenimperium wurden gerichtlich zunächst in drei großen Strafverfahren aufgearbeitet. Im WEB 1 Verfahren wurden mit Urteil vom 14.6.1999 die Hauptverantwortlichen wegen Untreue nach § 153 StGB zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, im WEB 2 Verfahren dann mit Urteil vom 19.8.2002 verschiedene Personen der zweiten Führungshierarchie. Im WEB 3 Verfahren wurden am 7.7.2003 drei Bankmanager der Hausbank wegen Beihilfe zur Untreue verurteilt.
Nachdem es vorher schon eine Vielzahl diverser Zivilprozesse, vor allem im Zusammenhang mit den Anlagefinanzierungen, gegeben hatte, kam es 2004 als Folge der Verurteilung der Bankmanager zu einem Schadenersatzprozess gegen die Hausbank, der in vielerlei Hinsicht alle bisherigen Dimensionen sprengte; es hieß, es sei der größte Zivilprozess Europas. Geschädigte WEB-Anleger forderten von der Hausbank des Konzerns zunächst rund 120 Mio Euro Schadenersatz. Im ersten Halbjahr 2004 langten beim Landes- und Bezirksgericht Salzburg nacheinander 42 (Sammel-)Klagen von insgesamt rund 3.200 Klägern ein. Es war in den LG-Verfahren von vorneherein Senatsbesetzung beantragt worden. Nachdem die Dimension des Verfahrens offenbar wurde und sich abzeichnete, dass nach Scheitern der Vergleichsbemühungen das Verfahren tatsächlich zu führen sein wird, wurden sukzessive die drei Richter von ihren sonstigen Aufgaben entbunden, sodass sie sich voll auf das Großverfahren konzentrieren konnten. Die über alle Zivilabteilungen des Landesgerichtes verstreuten Akten wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden, bei den BG-Verfahren vereinbarten die Parteien Ruhen der Verfahren.
Im November 2004 begann nach einer Einlesezeit die Verhandlungsperiode, die ein Jahr später vorzeitig mit einem Vergleich endete. In dieser Zeit wuchs der Akt auf rund 100 Bände (inklusive der verbundenen Verfahren) mit rund 40.000 Seiten und rund 7.000 Urkunden in 120 Ordnern mit über 400.000 Seiten an. Es war aber schon absehbar, dass sich der Umfang noch mehr als verdoppeln würde. Es waren 60 Zeugen und alle Kläger zu vernehmen. Auch die Verhandlungen sprengten den üblichen Rahmen eines Zivilverfahrens. Jede Seite war durch eine Gruppe von Anwälten samt Hilfspersonal vertreten und die Verhandlungen fanden im Schwurgerichtssaal statt.
Aufgrund des enormen Umfanges des Aktenmaterials wurde schnell klar, dass hier eine EDV-Unterstützung nicht nur sinnvoll, sondern absolut notwendig ist. Es lagen aber keine Erfahrungen vor, wie man derartige Zivilverfahren EDV-mäßig am besten verwaltet. Es gab nur einige Lösungen aus großen Strafverfahren, die aber bereits technisch veraltet waren. Der Richtersenat wurde von der Justizverwaltung in vorbildlicher Weise unterstützt und hatte weitgehend freie Hand im Einsatz der Mittel. Zunächst wurde versucht, das Konzept eines großen Innsbrucker Strafverfahrens auf das Zivilverfahren umzulegen. Es stellte sich aber schnell heraus, dass die Lösung die Möglichkeiten der heutigen EDV bei weitem nicht ausschöpft. Sie war mehr oder minder nur zur Präsentation von Urkunden geeignet.
Wir wählten in der Folge eine Variante mit pdf-Dokumenten (portable document format). Dabei handelt es sich um einen Standard, der gewährleistet, dass ein Dokument auf verschiedenen Computern gleich ausschaut. Diese Lösung ist ideal für ein Gerichtsverfahren. Sie eröffnet die Möglichkeit, einerseits ein originalgetreues Abbild einer Urkunde zu speichern, andererseits erzeugt sie aber auch editierbaren Text (Speichervariante „pdf mit Bild im Text“). Zu diesem Zweck muss das Dokument nach dem Scannen mit einem Texterkennungsprogramm behandelt werden. Es hat sich als vorteilhaft herausgestellt, das in einem Arbeitsgang zu verbinden. Die Urkunden wurden aus dem Texterkennungsprogramm heraus mit einem leistungsfähigen Einzugscanner gescannt, in Text umgewandelt und dann, damit die digitale Urkunde auch wieder aufgefunden werden kann geordnet unter der gerichtlichen Urkundenbezeichnung gespeichert.
- Siehe dazu Kapitel "Der digitale Akt"
Das Problem dabei bestand darin, dass die vorgelegten Urkunden häufig von sehr schlechter Textqualität und schon mit den Augen fast nicht lesbar waren. Bei dieser Qualität versagt die Texterkennung ebenso wie bei Urkunden, die mit handschriftlichen Anmerkungen oder Unterstreichungen versehen sind. Als absolut kontraproduktiv erweist sich hier insbesondere das in der Zivilprozessordnung vorgesehene Kennzeichnen der relevanten Stellen. Dies kann sogar zu einem „digitalen Unkenntlichmachen“ führen. Da ein solcher Text nicht automatisch erfasst werden kann (er kann vom Texterkennungsprogramm nicht entziffert werden), steht er für die Textsuche dann auch nicht zur Verfügung. Man benötigt daher ein System, das es ermöglicht, fehlende Informationen dadurch nachzutragen, dass die Dokumente mit Schlagwörtern versehen werden. Die Schlagworte ersetzen den nicht erkannten Text.
Sehr wichtig ist auch das Datieren der Dokumente, damit ein Dokument mit
Suchwort und Datumseingrenzung gesucht werden kann. Auf diese Weise kann man die
Suche auf den relevanten Zeitraum einschränken und erhält konkretere
Suchergebnisse. Man hat nämlich nichts von einer Suche, die Hunderte Treffer
ergibt.
Um diese Anforderungen erfüllen zu können, wurde in Zusammenarbeit mit den
Sachverständigen eine Lösung entwickelt, bei der der vorhandene digitale
Aktenbestand in eine Datenbank eingebracht und mit Schlagworten und Datum
versehen wurde. Die Verwaltung des Aktes sollte dann über eine einfach zu
bedienende Eingabemaske ähnlich einer Webseite erfolgen.
Ursprünglich wurde vorgesehen, diese Datenbank auf einer zugangsgeschützten
Website unterzubringen, damit ortsunabhängig darauf zugegriffen werden kann. Der
Umfang der Urkunden und, damit verbunden, die Größe der digitalen Dateien (bis
20 MB) hätten aber, bedingt durch die beschränkten Leitungskapazitäten, zu
langen Abrufzeiten geführt, sodass diese Idee wieder fallengelassen wurde.
Stattdessen wurde ein Konzept entwickelt, den Beteiligten die gesamte Datenbank
inklusive aller Dokumente zur Verfügung zu stellen, damit diese auf den lokalen
Computern installiert werden kann. Zur Umsetzung kam es allerdings durch das
überraschende Prozessende nicht mehr.
Die Verhandlung
Im Verhandlungssaal hatten zwar sowohl Gericht als auch Parteien auch den gesamten Papierakt untergebracht, tatsächlich gearbeitet wurde aber in der Folge vorwiegend mit den digitalen Dokumenten. Richter-, Parteien- und Zeugentische wurden mit TFT-Bildschirmen ausgestattet, die zwecks besserer Darstellung der Urkunden - den Parteien war wesentlich, dass den Zeugen das Gesamtbild der Urkunde präsentiert wird - im Hochformat aufgestellt wurden. Die Präsentation der Aktenstücke erfolgte durch einen beisitzenden Richter vom Notebook aus. Dazu waren alle Bildschirme zusammengeschlossen. Da man die pdf-Dokumente auch hervorragend vergrößern kann, konnte man auf den digitalen Bildern meist mehr erkennen als auf den schlecht lesbaren Originalen.
Daneben waren Richter- und Parteientische auch noch mit mehrfachen Netzwerkanschlüssen für den Internetzugang und mit Mikrophonen bestückt waren, sodass sich ein ordentlicher "Kabelsalat" ergab.
Der Verkehr zwischen Gericht und Parteienvertretern und Sachverständigen
Aufgrund des intensiven Verhandlungsplanes erwies es sich als zweckmäßig, alle gerichtlichen Protokolle vorweg per E-Mail an die Beteiligten zuzustellen. Nachdem meist Montag und Dienstag verhandelt wurde, wurden die Protokolle in den nächsten Tagen verbessert, in ordentliches Layout gebracht, in pdf-Dateien umgewandelt, die pdf-Dateien mit Inhaltsverzeichnis versehen und verlinkt und dann digital zugestellt. Das schriftliche Protokoll wurde dann in der nächsten Verhandlung ausgehändigt.
Umgekehrt wurden auch Schriftsätze der Parteien vorweg per E-Mail übermittelt.
Auch organisatorische Fragen mit den Sachverständigen
wurden weitgehend über E-Mail geklärt.
Der bei Gericht erstellte digitale Akt wurde in regelmäßigen Abständen den
Verfahrensbeteiligten auf selbsterstellten DVDs (Speicherumfang rund 4 GB)
ausgehändigt.