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Vorratsdatenspeicherung - ein harmloses Wort mit großen Folgen für den freien Bürger

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"Vorratsdatenspeicherung" klingt nach einem sehr unbedeutenden Wort. Auf Englisch hört es sich noch harmloser an: "Data retention". Welch banaler Begriff für den Übergang zu einem totalitären Überwachungsstaat! Der internationale Terrorismus scheint sein Ziel zu erreichen. Er trifft die westlichen Demokratien an ihrer empfindlichsten Stelle - bei der Freiheit des Individuums. Die Tendenzen hiezu gab es seitens gewisser Kreise schon immer. Der 11. September hat ihnen weltweit Auftrieb verliehen. Der 8. Juli 2005 könnte ihnen endgültig zum Durchbruch verhelfen. Mögen besonnene Politiker das noch verhindern.

Worum geht es bei der Vorratsdatenspeicherung überhaupt, wie wirkt sich das aus? Stellen Sie sich vor, Sie müssten ständig mit einer Kamera auf der Stirn herumlaufen, die Tag und Nacht alles aufzeichnet. Das Filmmaterial wird in einer Datenbank nur unter der Kameranummer gespeichert; an anderer Stelle werden die zur Kameranummer gehörigen Personendaten abgelegt. Ihr gesamtes Tages- und Nachleben wird nachvollziehbar festgehalten, ohne dass zunächst die Identität preisgegeben wird. Wer Zugang zu diesen Daten hat, hat Zutritt zu Ihrem gesamten Leben. Bei einer Überprüfung wird einfach Ihre Kamera zurückgespult, Leugnen ist zwecklos.

Eine schaurige Utopie? Im Internet ist das bereits heute Realität. Die Anonymität im Internet ist nur eine scheinbare oder relative. Um das zu verstehen, ist es notwendig, sich die Funktion des Internets vor Augen zu halten. Damit Millionen von Computern im Netz miteinander kommunizieren können, benötigt jeder einzelne davon eine eindeutige Bezeichnung. Dazu hat jeder Computer, sobald er mit dem Internet verbunden ist, eine weltweit einzigartige IP-Nummer. Bei den ständig mit dem Internet verbundenen Computern (Webserver, Knotenrechner, Suchmaschinen, usw.) ist dies eine fixe (statische) IP-Nummer, bei den nur zeitweise verbundenen Computern meist eine dynamische. Diese gehört zum Pool eines Providers, der sie kurzfristig für die Dauer einer Internetsitzung einem Kunden zur Verfügung stellt. Nur dieser Access-Provider kann daher feststellen, welcher seiner Kunden zu einem bestimmten Zeitpunkt welche IP-Nummer hatte.

Für eine Überwachung interessant sind nun die Server-Logdaten über den Internetverkehr aller Internetteilnehmer, unabhängig davon, ob mit statischer oder dynamischer IP-Adresse ausgestattet. Zunächst geht es darum, was die Nutzer mit den verschiedenen IP-Adressen so alles im Internet gemacht haben (z.B. mit wem sie in Verkehr getreten sind, wer welche Seiten aufgerufen hat, usw.) und dann geht es um die Aufdeckung, wer hinter diesen IP-Adressen steckt. Das kann alles bis ins Detail ausgewertet werden, solange die Log-Dateien vorhanden sind. Dem Ausspionieren sind dabei kaum Grenzen gesetzt.

Stellen Sie sich vor: Wann immer Sie in den letzten drei Jahren ein Telefonat geführt, eine E-Mail verschickt oder eine Website aufgesucht und dort auf ein Bild angeklickt haben, es ist jederzeit nachvollziehbar. Selbst wenn dabei keinerlei anrüchigen Dinge passiert sind: Wissen Sie nach drei Jahren noch, wann Sie damals mit wem aus welchem Grund telefoniert haben? Zufällig gerät dieser Unbekannte später in den Kreis krimineller Machenschaften und Sie finden sich aufgrund einiger zufälliger Verknüpfungen als Tatverdächtiger wieder. Ach ja, einen früheren Verdacht gibt es da auch noch gegen Sie, der nie ganz ausgeräumt wurde (welch dramatische Verkehrung der Unschuldsvermutung in ihr Gegenteil!). Na, jetzt beweisen Sie einmal, dass Sie unschuldig sind!

Die Internetprovider sind sich der Brisanz der von ihnen verwalteten Daten bewusst. Nicht nur weil die derzeitige Gesetzeslage eine Speicherung nur in sehr engem Rahmen zulässt, sondern auch, weil dieses Speichern viel Geld kostet, sind sie an einer Entsorgung dieser Daten interessiert. Gerade hier setzt aber die Forderung nach Vorratsdatenspeicherung ein. Gewisse Kreise in der EU interessiert nämlich auch, was die Bürger vor 3 Jahren im Internet gemacht haben. Man will deshalb eine entsprechend lange Speicherpflicht einführen. Natürlich führten derartige Ambitionen bereits zu einem Aufschrei der Datenschützer. Aber in Zeiten wie diesen wird der Datenschutz nur als Hindernis bei der Verfolgung wichtiger Interessen wahrgenommen und als Verbrecherschutz diskreditiert. Und die Grundrechte sind für viele sowieso abstrakte Gebilde ohne praktische Bedeutung, leider auch bei Juristen, die es eigentlich besser wissen müssten.

In der Praxis kommt es in letzter Zeit immer häufiger zu unseligen Allianzen zwischen Verbrechensbekämpfern, die mit den Gefahren des internationalen Terrorismus argumentieren, und der internationalen Musik- und Filmindustrie, die ihre wirtschaftlichen Interessen sichern will. Erstere haben es auf die Kommunikationsnetzwerke des Terrors abgesehen, letztere auf die Identität der Tauschbörsennutzer, denen sie die Schuld an ihren Umsatzeinbrüchen geben. Erstere haben politische Macht, letztere viel Geld, mit dem sie massiv Lobbying betreiben können. Beide haben dasselbe Problem: Sie können zwar relativ leicht nachvollziehen, was im Internet geschieht, aber die Spur endet meist bei einer anonymen IP-Adresse. Man muss daher unbedingt an diese Daten kommen, und zwar möglichst lange. Daher muss verhindert werden, dass diese Daten gelöscht werden. Die Löschpflicht des Datenschutzgesetzes muss in eine Speicherpflicht zum Zweck der Straf- und Rechteverfolgung umgewandelt werden.

Bei Menschen mit  Demokratiebewusstsein müssen diese Ambitionen für Unbehagen sorgen. Die umfassende und lückenlose Überwachung der Bürger ist ein wesentliches Merkmal eines totalitären Staates. George Orwell hat uns das in seinem Roman "1984" vor Augen geführt. Zahlreiche Staaten der Welt haben dieses Ziel bereits verfolgt und tun es immer noch. Macht giert nach mehr Macht und nichts verleiht mehr Macht als lückenlose Kontrolle. Der technische Fortschritt tut das Seinige und ermöglicht auch noch die Auswertung von Datenmengen, vor denen die DDR kapituliert hat. Die westlichen, auf den Grund- und Freiheitsrechten der Bürger basierenden Demokratien haben bisher darauf geachtet, das Individuum vor der ausufernden Staatsmacht zu schützen. Im Internet soll das alles nicht mehr gelten. Welche Interessen hier mitspielen, welche verschrobene Sicht des Internet hier einfließt, vielleicht auch wieviel Angst vor dem Unbekannten, darüber kann man nur mutmaßen.

Forderungen nach Überwachung und Verbesserung der Identifizierbarkeit begegnen wir auch in der realen Welt immer wieder.  Überwachungskameras tauchen da und dort im öffentlichen Raum auf. Kennzeichenpflichten für Radfahrer oder Schifahrer wurden schon gelegentlich gefordert. Aber noch immer dürfen diese Bevölkerungsgruppen trotz ihres Hanges zu Regelübertretungen anonym ihrem Bewegungstrieb fröhnen. Dabei sind gelegentlich tatsächlich mit der mangelnden Identifizierbarkeit gravierende Folgen für die Opfer verbunden. Im Internet haben wir längst die Kennzeichnung aller Verkehrsteilnehmer, jetzt soll noch die Aufzeichnung aller Bewegungen - bei Tag und bei Nacht, im öffentlichen wie im privaten Raum hinzukommen. Aus unerfindlichen Gründen sollen im Internet jegliche Grundrechte vor dem absoluten Überwachungsanspruch des Staates (wer hat ihm den verliehen?) zurückstehen.

Mit sachlicher Begründung haben diese Bestrebungen nichts zu tun. Natürlich ist jedem Fachmann klar, dass man derartige Vorfälle wie in London oder Madrid mit nichts in der Welt (außer vielleicht einer anderen Politik?) verhindern kann. Auch eine Verbesserung der Aufklärung durch eine längere Datenzugriffsmöglichkeit muss ernsthaft bezweifelt werden. Dafür reichen auch die jetzt zur Verfügung stehenden 3 Monate, soferne aus dem Kommunikationsverhalten der Täter überhaupt Schlüsse gezogen werden können. Schließlich sind das intelligente Menschen, die es verstehen geheim zu kommunizieren. Und wenn man alle Kommunikation der Welt überwachen und auswerten würde, würden gerade sie nicht auffallen. Das sind keine Kleinkriminellen, die im Klartext kommunizieren oder Dumm-User, die verschlüsseln, um die Aufmerksamkeit der Cybercops auf sich zu ziehen. Das sind Profis!

Aber darum geht es nicht. Es geht in der Politik fast nie um "die Sache". Es geht meist um irgendwelche Süppchen. Worum es hier geht, welche Interessen hier mitspielen, kann man schwer sagen. Zu unbegreiflich ist das Vorhaben. Unbegreiflich, wenn man unterstellt, dass unsere westlichen, zumindest ansatzweise liberalen Politiker wissen, was sie tun. Aber nicht einmal das kann man bei dieser Materie als gegeben voraussetzen.

Jedenfalls will die EU, genauer gesagt die Kommission und der Rat, das Internet kontrollieren. Unter dem harmlosen Begriff "Vorratsdatenspeicherung" soll die größte Bespitzelungsaktion der Weltgeschichte über die Bühne gehen. Bis zu drei Jahren sollen nach den Vorstellungen einzelner Proponenten alle Daten "vorrätig gehalten werden" (wobei vielfach noch gar keine klare Meinung vorhanden ist, welche Daten überhaupt betroffen sein sollen). Die Begründungen dafür sind haarsträubend. Das in den Grundrechten für die Zulässigkeit eines Eingriffes verankerte Gebot der Verhältnismäßigkeit wird mit Füßen getreten. Eigentlich meint man als Bürger eines freien Landes, so etwas sei undenkbar.

Apropos "Bespitzelungsaktion". Natürlich argumentieren die Proponenten des Speicherwahnes damit, dass der Zugang zu diesen Daten ganz streng geregelt würde und nur über richterliche Erlaubnis erfolgen dürfe. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik, dass in solchen Fällen immer der unabhängige Richter als oberster Hüter des Rechtsstaates herhalten muss, obwohl klar ist, dass der nur ein Feigenblatt sein kann, weil er hoffnungslos vom Material abhängig ist, das ihm von der Exekutive vorgesetzt wird. Eine seriöse Überprüfung eines Tatverdachtes ist in diesem ersten Stadium eines Verfahrens, in dem es in der Regel um die Erfassung von Kommunikationsdaten geht, unmöglich. Abgesehen davon weiß man in Österreich spätestens seit dem Spitzelskandal, dass alle wesentlichen Auskünfte sowieso am Richter vorbeilaufen. Also nur keine Illusionen: Alle Daten, die missbraucht werden können, werden missbraucht. Daher sind nur gelöschte Daten gute Daten!

Unabhängig von den Überlegungen, die jetzt aus gegebenem Anlass in Großbritannien angestellt werden, versucht die EU bereits seit Jahren eine generelle, für alle Mitgliedsländer verbindliche Regelung über die Datenspeicherung einzuführen. Ginge es nach dem Willen von Kommission und Rat, gäbe es längst eine Richtlinie. Tatsächlich hat aber das EU-Parlament dem einen Riegel vorgeschoben und die Vorratsdatenspeicherung vor kurzem aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt.

Aber hier zeigt sich einer der Hauptgründe der Misere des vereinten Europa. Das Parlament ist schwach und verfügt nicht über die sonst zum Standard gehörenden Befugnisse. Rat und Kommission regieren relativ selbstherrlich ohne große Rücksicht auf das Parlament und unbehelligt von den sie entsendenden Regierungen. Üblicherweise finden die Mitglieder von Kommission und Rat nichts dabei, in ihrem Heimatland A zu predigen und in Brüssel B zu vollziehen. So ist es möglich geworden, dass die Politiker in Brüssel ohne Rücksicht auf ihre nationalen Wähler Normen beschließen, die von den nationalen Parlamenten nur mehr in der Art von Ausführungsgesetzen zu vollziehen sind. Daheim wird politisches Theater gespielt, ganz so, als müssten wesentliche Weichen gestellt werden, in Wirklichkeit erfolgen aber fast alle wichtigen Weichenstellungen in Brüssel, ungestört vom Wahlvolk. Aus der Demokratie ist insgeheim eine Oligarchie geworden. Und dann wird dem Volk EU-Verdrossenheit unterstellt. Abgesehen, davon, dass es tatsächlich genügend Dinge gibt, über die man verdrossen sein könnte, kennt kaum jemand die Vorgänge in der EU. Worüber soll das Volk also verdrossen sein?

Auch das Regulativ der Medien versagt hier. Über die Vorgänge in der EU wird kaum bis gar nicht berichtet. So war auch der geradezu revolutionäre Parlamentsbeschluss über die Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung den meisten österreichischen Medien keine Schlagzeile wert.

Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Ich bin der Letzte, der die Notwendigkeit einer Telefonüberwachung oder einer Erfassung von Telekommunikationsdaten leugnet. Aber von diesen, seit vielen Jahren im einzelnen Verdachtsfall über individuelle Beschlussfassung eines Gerichtes angewendeten strafprozessualen Mitteln zur Aufklärung von Straftaten bis zur ausnahmslosen, vorbeugenden Speicherung aller Daten aller Kommunikationsteilnehmer ist ein langer Weg. Auf diesem Weg werden die in den Grundrechten der westlichen Rechtsstaaten anerkannten Prinzipien der Verhältnismäßigkeit bei weitem verlassen. Das nächste, was einem dazu einfällt ist der Spitzel-Irrsinn der ehemaligen DDR. Wer derartige Maßnahmen mit dem vordergründigen Argument der Terrorbekämpfung fordert, hat gute Chancen, als Totengräber der bürgerlichen Freiheiten in die Geschichte einzugehen.

Die Devise muss daher lauten: Wehrt euch, solange ihr noch könnt! Wie die Geschichte lehrt, geht der Übergang von einer Staatsform in die andere gelegentlich sehr schnell.

10.7.2005

Franz Schmidbauer

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